Lesetipp: Eine Bombe für die RAF. Das Leben und Sterben des Johannes Thimme, von seiner Mutter erzählt

(Disclaimer: Ich teile viele der von Ulrike Thimme vertretenen Positionen nicht, halte das Buch aber aus leider aktuellem Anlass für lesenswert. Johannes Thimme wird in der Auflösungserklärung der RAF erwähnt, ist jedoch heute vermutlich in Vergessenheit geraten.)

Das Folgende ist vom Deutschlandfunk 2004 geklaut:

„Beim Thema RAF schlagen hierzulande die Wogen meist noch hoch, eine Auseinandersetzung ohne ideologische Scheuklappen fällt schwer, wie nicht zuletzt gerade im Gerangel um die Berliner Ausstellung zum Thema wieder deutlich wurde. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich die heute über 80-jährige Mutter von Johannes Thimme, der sich 1985 durch einen selbstgebastelte Bombe in die Luft sprengte, daran gemacht hat, die Geschichte ihres Sohnes zu rekonstruieren. Ulrike Thimme ist auf Spurensuche in eigener Sache gegangen. Tom Schimmeck hat ihr Buch gelesen und mit ihr gesprochen:

Sie hat den Schmerz weichen und ihren Blick lange reifen lassen, bis sie zur Feder griff. Andernfalls, sagt die Autorin, wäre ihr Buch auch viel zu emotional geworden. Ulrike Thimme, Jahrgang 1923, ist Mutter dreier Söhne. Der mittlere, Johannes Thimme, starb Anfang 1985 bei dem Versuch, eine Bombe zu legen. Die Mutter wollte jetzt, 18 Jahre später, keine rührselige Geschichte zu Papier bringen, den Werdegang ihres Sohnes nicht zu Kitsch oder falschem Heroismus stilisieren, sagt sie bei einem Besuch.

Als ich angefangen hab zu schreiben, Ende 2002, da lag das ja schon 18 Jahre zurück, der Tod, das ist auch nicht so, dass da wieder was neu aufgewühlt wurde. Ich hab mich immer damit beschäftigt, aber nicht immer getrauert…

Nein, sie wollte auf Forschungsreise in eigener Sache gehen, wollte den Weg eines Jungen nachzeichnen, der in den rauen 70er Jahren politisiert wurde und zum dogmatischen „Antimperialisten“ wurde. Es war eine Zeit zorniger Proteste. Nur wenige griffen damals wirklich zu den Waffen und wurden Terroristen. Viele aber lehnten zwar deren Methoden ab, konnten die Motive jedoch durchaus nachvollziehen. Lüge, Ausbeutung, Konsumfetischismus und Krieg waren beherrschende Stichworte einer immer erbitterter geführten Debatte. Ulrike Thimme schildert dies alles völlig unpathetisch, fast penibel. Sie hält sich an ihr Material – ihre Tagebücher, Briefe, Fotos, Zeitungsausschnitte, Prozessakten. Daran hat sie sich, so sagt sie, „entlang gehangelt“. Sie wollte nichts entschuldigen oder verklären, auch nicht die eigene Rolle:

Zu uns sind zwar alle Leute sehr freundlich gewesen, aber die, die es nicht verstanden oder uns nicht mochten, haben halt hinter unserem Rücken geredet. Die Frau von unserem Pfarrer, der unsere Kinder konfirmierte, hatte zu mehreren Leuten in Ettlingen gesagt: „Die Frau Thimme ist ja selber schuld, die hat ja ihre Kinder antiautoritär erzogen.“ Was nun natürlich völliger Schwachsinn war, aber so haben das Leute gesehen. Und ich habe überlegt: Was stimmt da eigentlich dran? War ich vielleicht wirklich zu lasch? Ich schreibe das ja auch in dem Buch: Sehr konsequent war unsere Erziehung nicht. Wir waren auch unsicher. Einerseits wollten wir nicht so einen Nazidrill, andererseits sollte es zu freiheitlich auch nicht zugehen. Wenn sie anfingen, uns auf die Füße zu treten, wollten wir das auch nicht haben.

In ihrem Buch ersteht diese Zeit wieder auf – ihre Wut, ihre drastische, manchmal schrille Sprache, begleitet von harter Rock-Musik. Manches wirkt heute fast komisch. Die Kämpfe um die Haarlänge etwa. Oder der Schock des Lateinlehrers, als der Sprössling die Klassenarbeit mit „Johannes Thimme, Unterdrückter des kapitalistischen Leistungssystems“ signiert. Er geriet in das Umfeld der Roten Armee Fraktion. Die RAF, je nach Standpunkt „Baader-Meinhof-Gruppe“ oder „Baader-Meinhof-Bande“ genannt, attackierte US-Einrichtungen und Verlagshäuser, operierte mit Bomben, Entführungen und Mord. 1977 töteten einzelne Mitglieder den Generalbundesanwalt Siegfried Buback, den Bankier Jürgen Ponto und den Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer. In jenem deutschen Herbst verschwand auch Johannes Thimme als Angeklagter im neuen Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim. In Notizen eines untergetauchten RAF-Anwalts, die den Fahndern in die Hände gefallen waren, war von einem Helfer namens „Tim“ die Rede. Die Ankläger glaubten: „Tim“ sei Thimme. Mit Hilfe geänderter Gesetze, die den Nachweis der einzelnen Tat nicht mehr erforderlich machten, wurde Thimme zu 22 Monaten Haft verurteilt. Im Urteil stand: „Der genaue Umfang der vom Angeklagten tatsächlich ausgeübten Tätigkeit hat sich nicht ermessen lassen.“

Die Haft gab der Beziehung der Eltern zu ihrem Kind eine neue Intensität. In seinen Briefen aus der Zelle rieb sich der Sohn an den Akademiker-Eltern, suchte sie zu entlarven und attackierte ihre „dämmrig-elitäre Wohnzimmerkultur“. Gleichzeitig bemühte er sich immer wieder, ihnen seine Weltsicht und seinen Zorn zu erklären. Der bewegende Briefwechsel gerät mal liebevoll, mal derb. RAF–Methoden lehnen die Eltern brüsk ab.

Die Bewegung selber habe ich nie ganz verstanden, in dieser Radikalität, weil ich nun selber ganz für gewaltloses Denken bin. Wie es bei ihm zu der Radikalität gekommen ist, das sind meiner Meinung nach die Haftbedingungen gewesen, und das kommt immer wieder vor mir bei ihm, auch als er im Knast gewesen ist, auch sonst ging es eigentlich immer wieder darum.

1981 kam Johannes Thimme zum zweiten Mal ins Gefängnis. Er hatte anlässlich eines weiteren Hungerstreiks der RAF ein Solidaritäts-Flugblatt verteilt und wurde nun der „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ angeklagt. Das Urteil lautete auf anderthalb Jahren Haft. Zeitungen kommentierten die „groteske Härte“. Den Eltern entglitt der Sohn nun zusehends.

Die schwerste Erfahrung ist das aneinander vorbeireden. Jeder rastet in seiner Position ein. Dann fängt man wieder an, das ist einfach nicht zu fassen, da bekommst du immer dieselbe Antwort oder die gleiche. Das zieht einen sehr runter.

Ulrike Thimme hat dieses Gefühl der Ohmacht in ihrem Buch nicht ausgewalzt. Aber es war, erzählt sie im Gespräch, fast immer präsent. Alle drei Söhne waren damals sehr kritisch und politisch engagiert. Johannes aber wurde immer unerreichbarer und vergrub sich, wieder in Freiheit, immer tiefer in seine Weltsicht.

Bei unseren hat es sich durch die Beschäftigung mit der Politik entwickelt, bei Johannes war es sehr stark die Rolle Amerikas, und das hat er nicht nur nachgeschwatzt, er ist ja selber nach Amerika gegangen und war er ein riesiger Zeitungsleser, (das hab ich eigentlich vergessen zu erwähnen). Als er bei uns noch einmal wieder gewohnt hat, war das ganze Zimmer bedeckt mit Zeitungen und er war nur damit beschäftigt, Dinge auszuschneiden. Da hab ich zu ihm gesagt habe: Also, Johannes, wenn man den ganzen Tag, über acht Stunden, nur das Leid der Welt in sich aufsaugt, dann muss man ja falsch reagieren, oder jedenfalls kann das nicht in der Balance mehr bleiben.

Und das blieb es nicht. Bei einem weiteren Hungerstreik, mit dem die Gefangenen der RAF bessere Haftbedingungen und eine Zusammenlegung erzwingen wollten, beschlossen Johannes Thimme und eine weitere Genossin, eine Bombe zu legen. An einem Sonntagabend im Januar 1985 schoben sie den selbst gebastelten Sprengkörper in einem Kinderwagen durch ein Stuttgarter Gewerbegebiet. Er sollte tief in der Nacht explodieren. Doch er zündete sofort. Thimme wurde in Stücke gerissen. Die Polizei lieferte bei der Mutter später blutgetränkte Kleidungsfetzen ab, fein säuberlich in Plastikbeuteln verpackt. Der Ordnung halber. Sie verweigerte die Annahme. Es war gewiss ein heikles Unterfangen für die 80-jährige Autorin, sich bald zwei Jahrzehnte nach dem Tod ihres Sohnes auf dessen Leben einzulassen. Aber das Experiment ist gut gelungen. Die Distanz, die sie geschaffen hat, ist beeindruckend. Und das Bild, das sie zeichnet, lebt.“

https://www.deutschlandfunk.de/ulrike-thimme-eine-bombe-fuer-die-raf-das-leben-und-sterben-100.html

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passiert am 20.01.1985